Das Finanzamt darf Umsatzsteuer gegen den Insolvenzverwalter aufgrund der Tätigkeit des Schuldners festsetzen, wenn der Schuldner eine selbständige Tätigkeit aufnimmt und der Insolvenzverwalter dies weiß oder wissen müsste, aber nicht unverzüglich erklärt, ob er die Tätigkeit aus der Insolvenzmasse freigibt oder nicht freigibt. Aufgrund dieser Pflichtverletzung des Insolvenzverwalters wird die Umsatzsteuer eine Masseverbindlichkeit und ist daher gegen den Insolvenzverwalter festzusetzen.
Hintergrund: Wird das Insolvenzverfahren über das Vermögen des Schuldners eröffnet, geht die Verfügungsbefugnis vom Schuldner auf den Insolvenzverwalter über. Übt der Schuldner eine selbständige Tätigkeit aus oder will er diese aufnehmen, muss der Insolvenzverwalter eine sog. Freigabeerklärung abgeben, die positiv oder negativ ausfallen kann. Er muss dem Schuldner gegenüber erklären, ob das Vermögen aus der selbständigen Tätigkeit zur Insolvenzmasse gehört und ob Ansprüche aus dieser Tätigkeit im Insolvenzverfahren geltend gemacht werden können. Diese Erklärung wird vom Insolvenzgericht veröffentlicht. Erteilt der Insolvenzverwalter eine (positive) Freigabe, entsteht beim Schuldner eine neue Haftungsmasse, d. h. auf sein neu erworbenes Vermögen können nur die Neugläubiger zugreifen, nicht aber die Altgläubiger.
Sachverhalt: Der Kläger ist Insolvenzverwalter über das Vermögen des A, eines Handwerkers. Das Insolvenzverfahren wurde am 22.10.2012 eröffnet. Seit dem Herbst 2012 war der Kläger bereits vorläufiger Insolvenzverwalter und hatte auch das Insolvenzgutachten erstellt. Im Insolvenzgutachten hatte der Kläger ausgeführt, dass zu erwarten sei, dass A weiterhin als Handwerker tätig werde. Mit Schreiben vom 16.1.2013 erklärte der Kläger, dass er die selbständige Tätigkeit des A freigebe. Der Kläger erklärte in seiner Eigenschaft als Insolvenzverwalter für das Streitjahr 2012 Umsätze des A in Höhe von 0 €. A selbst gab keine Umsatzsteuererklärung ab. Das Finanzamt ging hingegen davon aus, dass A im Jahr 2012 seit der Insolvenzeröffnung Umsätze ausgeführt habe, schätzte diese und setzte Umsatzsteuer gegen den Kläger als Insolvenzverwalter des A als sog. Masseverbindlichkeit fest. Eine Festsetzung der Umsatzsteuer gegen A scheide aus, weil die Freigabeerklärung erst am 16.1.2013 erfolgt sei, aber noch nicht im Jahr 2012.
Entscheidung: Der Bundesfinanzhof (BFH) verwies die Sache zur weiteren Aufklärung an das Finanzgericht (FG) zurück:
Gegen den Kläger als Insolvenzverwalter des A ist Umsatzsteuer festzusetzen, wenn die Umsatzsteuer nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens begründet wird und es sich um sog. Masseverbindlichkeiten handelt. Der Insolvenzverwalter muss dann die Umsatzsteuer vorweg aus der Insolvenzmasse bezahlen. Alle anderen Steueransprüche, die nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens begründet werden, sind insolvenzfrei und werden daher gegenüber dem A selbst festgesetzt.
Masseverbindlichkeiten sind Verbindlichkeiten, die durch Handlungen des Insolvenzverwalters oder durch die Verwaltung, Verwertung und Verteilung der Insolvenzmasse begründet werden. Durch die Freigabeerklärung des Insolvenzverwalters, ob er die Tätigkeit des Schuldners A freigibt, soll zweifelsfrei klargestellt werden, ob die Verbindlichkeiten, die durch die Tätigkeit des A begründet werden, Masseverbindlichkeiten darstellen oder nicht. Die Freigabeerklärung muss ohne schuldhaftes Zögern erklärt werden; eine Frist von vier Wochen reicht aus, wenn der Insolvenzverwalter bereits das Insolvenzgutachten erstellt hat.
Das bedeutet:
Gibt der Insolvenzverwalter die Tätigkeit innerhalb der Frist frei, entsteht ab diesem Zeitpunkt die Umsatzsteuer beim A und ist ihm gegenüber festzusetzen.
Gibt der Insolvenzverwalter die Tätigkeit innerhalb der Frist nicht frei, entsteht die Umsatzsteuer beim Insolvenzverwalter als Masseverbindlichkeit und ist ihm gegenüber festzusetzen.
Verletzt der Insolvenzverwalter seine Pflicht zur Erteilung der Freigabeerklärung innerhalb der Frist, führt das pflichtwidrige Unterlassen ebenfalls zur Entstehung der Umsatzsteuer als Masseverbindlichkeit, so dass diese gegenüber dem Insolvenzverwalter festzusetzen ist.
Hinweise: Das FG muss nun aufklären, ob der Kläger seine Pflicht zur unverzüglichen Freigabeerklärung verletzt hat. Eine Pflichtverletzung setzt voraus, dass der Kläger die selbständige Tätigkeit des A kannte oder hätte erkennen können. Die Angaben im Insolvenzgutachten deuteten darauf hin, dass der Kläger Kenntnis von einer selbständigen Tätigkeit des A hatte; allerdings hat der Kläger eine derartige Kenntnis ausdrücklich bestritten.
BFH, Urteil v. 18.12.2019 - XI R 10/19; NWB